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Rundfunkverbrechen und Wehrkraftzersetzung - Eine Anklageschrift von 1944

Die Ungerechtigkeit und Grausamkeit der nationalsozialistischen Justiz gegenüber vermeintlichen "Hochverrätern" sind legendär.

Hier liegt eine Quelle aus dem Dritten Reich vor, die einen Einblick in das Schicksal eines Opfers, aber auch in die Arbeit eines führenden Akteurs der Justiz des Nationalsozialismus ermöglicht.

Sie zeigt zudem indirekt die Stimmung auf, die gegen Ende des Zweiten Weltkriegs im Deutschen Volk herrschte.


Der Fall

Die Generalstaatsanwaltschaft in Hamm ermittelt im Jahr 1944 gegen einen Invaliden und seine Ehefrau, die so genannter Rundfunkverbrechen verdächtigt werden.

Vermutlich nach einer Denunziation beginnt die Gestapo zu ermitteln und nimmt das Ehepaar Z. fest.

Nach fast einem halben Jahr erhebt der Generalstaatsanwalt in Hamm Dr. Günther Joel Anklage. Diese Anklageschrift liegt hier vor.

Der Angeklagte

Z. ist den Nationalsozialisten schon vor der "Machtergreifung" ein Dorn im Auge: Bereits "am Tag der Machtübernahme" (30. Januar 1933) wird der KPD-Funktionär festgenommen und in ein Konzentrationslager gesperrt, nach 3 Monaten aber wieder entlassen.

Doch schon im Jahr darauf wird Z. wegen Hochverrats zu einer geringen Zuchthausstrafe verurteilt.

Z., 1943 bereits 52 Jahre alt und schwer rheumakrank, scheint im Laufe der Jahre zunehmend zu verbittern.

Er hängt, folgt man den Zeugenaussagen der Anklageschrift, realitätsfernen Machtphantasien nach, nach denen ihm nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus eine leitende Rolle in der Regierung zukäme.

Als Gegner der Nationalsozialisten informiert er sich durch die einzige von Reichspropagandaminister Goebbels nicht kontrollierbare Nachrichtenquelle, die es in Deutschland damals gibt: Er hört die ausländischen "Feindsender" ab, v.a. Radio London (BBC auf deutsch) und den deutschen Sender Moskau.

Das "Schwarzhören" allein hätte noch nichts Schlimmes nach sich ziehen müssen: Viele Deutsche hörten heimlich die ausländischen Sender.
Z. war sich jedoch scheinbar über Jahre hinweg stets sicher, dass die Herrschaft Hitlers jeden Moment vorbei sein müsse und riskierte es, das Radio laut zu stellen und darüber hinaus die gehörten Nachrichten in der Nachbarschaft weiterzuerzählen.

Das "Verbrechen"

Damit machte sich Z. eines Rundfunkverbrechens strafbar.

Seit 1939 war es verboten, die feindlichen Sender abzuhören. Dies regelte die Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen. Sie wird wörtlich im Anklagepunkt Nr. 2 a) der Anklageschrift zitiert.
Nach dieser Verordnung konnte man wegen der Weiterverbreitung feindlicher Nachrichten zum Tode verurteilt werden, ein Strafmaß, das im vorliegenden Fall nahelag, da Z. seine Kenntnisse mit einem Soldaten auf Heimaturlaub teilte und somit auch "wehrkraftzersetzend" tätig wurde (vgl. 2c) der Anklage).

Der Ankläger

Aus der Anklageschrift geht nicht hervor, von welchem Richter Z. verurteilt wurde, aber das Dokument verrät einiges über den Ankläger.

Dr. Günther Joel war einer der Vorzeigejuristen des nationalsozialistischen Reichs, ein Musterkarrierist, bereits mit gerade einmal 34 Jahren Oberstaatsanwalt im Reichsjusizministerium, seit 1943 (mit 40 Jahren) Generalstaatsanwalt in Hamm.
Dr. Joel war als Experte gefragt, wenn es um die Umsetzung nationalsozialistisch geprägter Verordnungen ging: So beriet der frischgebackene Oberstaatsanwalt mit, als sich Praktiker aus Gestapo und Justiz im Reichsjustizministerium über die Umsetzung der legalisierten Folter unterhielten und einheitliche Standards schufen. (s. Anmerkung)

Mit der vorliegenden Anklageschrift wollte Joel den lästigen Kommunisten Z. offenkundig ein für allemal aus dem Weg räumen: Er beließ es nicht nur bei der Anklage wegen der Rundfunkverbrechen, für die ja regulär eine Zuchthausstrafe vorgesehen war, sondern ergänzte die Anklage in Punkt 2b) noch mit gewaltsamen hochverräterischen "Unternehmen", die angeblich dem Umsturz der Verfassung dienten.

Hier wird deutlich, wie aus den Äußerungen Z.s gegenüber einigen Zeugen bildlich aus einer Mücke - dem verbitterten schwerkranken Kommunisten - ein revolutionärer und gemeingefährlicher Elefant gemacht wird.

Diese Interpretation der "Tat" passt ins Bild, das die Geschichtsschreibung von Günther Joel gewann:
Auch wegen seiner Tätigkeit in Hamm wurde er im Nürnberger Juristenprozess zu 10 Jahren Zuchthaus (in Landsberg!) verurteilt.
Für die Hinterbliebenen seiner Opfer muss es bis heute wie Hohn erscheinen, dass Dr. Joel nach nur 4 Jahren Haft 1951 begnadigt wurde und fortan als Justiziar tätig war. [zu Günther Joel]

Z.s Frau wurde schließlich von einem Sondergericht verurteilt: Hier kennen wir das Urteil und die Begründung, da hierüber ein Zeitungsartikel überliefert ist:
Zum Zeitungsartikel


Unterrichtseinsatz

Zur Methodik wird hier (wie immer) nicht viel gesagt. Die Quelle ist meines Erachtens auf zwei Arten sinnvoll im Unterricht einsetzbar:

Quellenarbeit mit Ausdruck

Für die herkömmliche Besprechung einer Quelle in einer 9. oder 10. Klasse oder im Grund- oder Leistungskurs Geschichte empfiehlt sich die Lektüre des nahe am Original transkribierten und nicht weiter erläuterten Textes mit anschließender ausführlicher Besprechung. Die Scans des Originals müssen Sie extra herunterladen.

Diese Version finden Sie hier. (PDF, 208 KB).

Quellenarbeit im Computerraum

Zur intensiven Textarbeit entweder im Rahmen eines Projekts zum Nationalsozialismus in der Mittelstufe oder im Leistungskurs Geschichte steht eine quellennah aufbereitete Online-Fassung zur Verfügung.
Diese können Sie sich für die Unterrichtsvorbereitung in Ruhe anschauen und sie dann im Unterricht direkt im Internet einsetzen.
Eine Version speziell für den Einsatz auf Ihrem Schulserver (mit der Druckversion) können Sie auch herunterladen und dort installieren. Die Scans des Originals müssen Sie extra herunterladen.
Vor der Arbeit mit der kommentierten Online-Fassung sollten die Schüler die Quelle mindestens einmal gelesen haben, sonst ist die Arbeit nicht effektiv!

Die Startseite (für die Schüler) dieser Version finden Sie hier. (HTML).

Herunterladen können Sie die Schulserver-Version hier (ZIP-Archiv, 240 KB)


Edition der Quelle

Die Online-Edition der Quelle mit ausführlichen Komentaren finden Sie hier: zur Online-Edition.

Scans des Originals (Druckversionen):

Seite 1: Scan des Originals

Seite 2: Scan des Originals

Seite 3: Scan des Originals

Seite 4: Scan des Originals

Seite 5: Scan des Originals

Zu Zwecken der historischen Forschung liegt auch eine nicht geschwärzte Version des Dokuments als Scan vor.
Interessenten wenden sich bitte an mich.